Heinz Pelz

Drift


Harald Kröner



Zeichnung ist das Größte, Tollste, Beste. Für mich. Ich kann nichts dagegen machen. Die künstlerische Zeichnung war ursprünglich, wie wir alle wissen, eher dienende Vorbereitung, Plan und Projektskizze für andere Gattungen, und hat sich davon vollständig emanzipiert, auch in der Wahl ihrer Mittel und Materialien. Deshalb sage ich bewusst Zeichnung und nicht Papierarbeit. Denn längst muss nicht mehr im engeren Sinn gezeichnet werden: Mir jedenfalls gilt ein Schnitt, eine Risskante, ein Materialwechsel in einer Collage so gut als Linie wie ein Bleistiftstrich, oder eben auch das, was Heinz Pelz unternimmt, um Liniengebilde zu erzeugen. Das Erfinderische, (gerade im Bereich der Zeichnung,) ist dabei ein wesentliches Kriterium, und vielleicht sind mir deshalb diese Blätter so nah. Im Alltag ist sie allgegenwärtig als Notiz, Kritzelei, Gedankenstütze, skizzierte Veranschaulichung eines Gedankens, Wegbeschreibung, schnell notierte Handynummer oder Adresse. Selbst in dieser Form, gar nicht als Zeichnung gedacht, oder sich ihrer selbst nicht als solche bewusst, fasziniert sie mich. Liegt es an der unverstellten Spur der Hand, die nirgends sonst so deutlich sichtbar bleibt? Der direkten Aktion, lesbar auch in ihrem Duktus, in ihrer Energie? An dieser Unmittelbarkeit, der Nahbarkeit? Zeichnung ist sahneweiße Oberfläche, im Durchleuchten der Farben Lichtfülle.


Matisse spricht von der „kostbaren rührenden Weiße“ des Blattes.(1) Zeichnung ist Leichtigkeit; du kannst sie einrollen und mitnehmen. Das Flüchtige der Ideenskizze haftet ihr immer an, vielleicht auch aus unserer halb bewussten Erfahrung mit dieser immer anwesenden Möglichkeit, vielleicht aus dem, was uns selbst als Skizze und Notiz unter der Hand geschieht. Die Behauptung, etwas komplett Fertiges abzuliefern, ist weniger ausgeprägt, das Prozessuale,

das sie aus ihren anderen Verwendungsbereichen mitführt, geht nie ganz verloren. Und wenn ich behaupte, Zeichnung sei das Höchste, Skizze eine Art Reinform, näher am Quellort als alles andere, dann würde ich das Provisorische über das Geplante und Formvollendete stellen.


Ist das so? In meiner Vorstellung jedenfalls gibt es immer einen Anteil an Potential – im Sinne eines Möglichkeitsraumes – an noch “unerlöster” Bewegung. In einer planvoll durchgeführten, vollendeten Arbeit wäre das Potential gewissermaßen erschöpft, es geht vollständig in der endgültigen Form auf. In der hingeworfenen Notiz dagegen hätte ich einen eher ungefähren Zustand, der hauptsächlich aus Potential besteht. Dann wäre Zeichnung, die sich immer zwischen diesen Polen bewegt, in der Summe ihrer Ausprägungen eher Energieform und Bewegung, als Ergebnis.


Das gilt auch für die Zeichnungsblöcke, die Heinz Pelz in immer wieder anderer Form zusammenstellt. Auch sie sind für ihn dezidiert unvollständig, weil sie immer nur einen willkürlichen Ausschnitt zeigen (können), aus einem sehr viel umfangreicheren Konvolut, das er als ein großes und vollständiges Ganzes begreift. Diese kleinen Blätter sind Spaziergänge, Ausflüge ins Offene, Ausloten der Wassertiefe, Strömungen, Manöver, Vom-Kurs-Abkommen in einer Drift, die Neuland entdeckt, das sich mitunter vom kleinen Inselchen zum eigenständigen Kontinent mausern kann. Als Ganzes ist das ein ständig wachsender Ideenspeicher, eine Art Batterie. Heinz Pelz spricht von „abstrakten Vokabeln“, die er entwickelt und irgendwann an anderer Stelle wiederverwenden kann. Ein Ausschnitt aus einem Vokabelkasten.


Die großen Arbeiten entwickeln daraus einen Text. Eigenartigerweise erscheint die graphische Schicht mit den feinen schwarzen Linien und Linienscharen als “unterste”, ist aber tatsächlich die, die als letzte gearbeitet wird. Sie entsteht dadurch, dass Heinz Pelz mit einer Bohrmaschine mit Schleifaufsatz das Papier grob verletzt. Das Ergebnis dieser Aktion ist mehr oder weniger unsichtbar. Danach wird die Fläche mit verdünnter schwarzer Ölfarbe geschlämmt und gewaschen und die Farbe sammelt sich in den Graten. Eigentlich ist es das Prinzip eines Druckverfahrens, der Kaltnadelradierung, nur dass das eigentliche Zentrum, das Medium dieser Technik, die Kupferplatte nämlich, wegfällt, und der ganze Vorgang sich direkt im Papier selbst abspielt. Um dieses als letzten Arbeitsschritt machen zu können, muss Heinz Pelz zuvor die darunterliegenden Schichten mit einer transparenten Lackschicht abdecken, die zudem je nach Durchlässigkeit zusätzliche, nicht vollständig steuerbare Grauwerte in der Fläche ermöglicht. Er konterkariert damit alle vorherigen Setzungen und nimmt sie, wenn nicht zurück, dann zumindest hinüber in einen Bereich, der sich seiner Kontrolle weitgehend entzieht.


Das Interessante ist für mich, dass Heinz Pelz Methoden entwickelt, die es ihm ermöglichen, auf langen Strecken indirekt, oder wenn man so will, blind zu arbeiten und, wie im oben beschriebenen Fall, eigentlich auch alles noch einmal aufs Spiel zu setzen. Das trifft auch auf die Rouleauarbeiten zu, bei denen er durch ein Abdeckblatt und Carbonpapier hindurch die Farbe als gepunktete Linie auf den eigentlichen Bogen durchstößt, in einen Schwebezustand hinein, der einen Raum öffnet, in den er erst später wieder mit bewussten Setzungen eingreift. Bei diesen aleatorischen Verfahren werde ich den Verdacht nicht los, dass es auch darum geht, die Geste des genialischen Strichs souverän zu unterlaufen.


Heinz Pelz kommt mir vor wie ein Fechter, der sich den rechten Arm auf den Rücken bindet, um Routine und Langeweile zu entgehen. Was mich an den unbesiegbaren Meisterfechter Inigo de Montoya erinnert, der in William Goldmans „Brautprinzessin“ fast jeden Kampf zumindest so beginnt. Und eine wunderbare Begründung mitliefert: „Ich habe die Vorstellung und den Wunsch, immer ein Anfänger zu sein, weil ich das Anfängerglück so liebe.“(2)


Alles wieder auf Anfang zu setzen, den Zufall einzuladen, ist magisch: es kann alles von Unschärfe und Störung bis Epiphanie erzeugen – und es enthierarchisiert die Handlungsabläufe, indem es Willentliches und Unwillentliches in eins setzt. Woher aber kommt diese Skepsis gegenüber der gesetzten Linie, dem planvollen Vollzug? Es geht nicht um Bescheidenheit, nicht nur um Erfindungen, eher scheint es um eine grundsätzliche Haltung zu gehen, um eine Art Authentizität, die als vielleicht wesentliche Fragestellung für die eigene Arbeit bei nicht wenigen Künstlern unserer Generation eine Rolle spielt, welche unterschiedlichste Strategien erfinden, um zu dieser gesteigerten Form vorzudringen.


Im Bereich der Musik war John Cage der Protagonist, der den Zufall umfassend in seine Arbeit einbezogen hat, man findet das dann wieder z. B. bei Fred Frith, oder in anderer Form – im abrupten Wechsel der Genres – bei John Zorn. Bei allen geht es auch um sprunghafte Veränderung. Dass das bei einem größeren Publikum auch abgerufen werden kann – und muss! – als mittlerweile selbstverständliche Fähigkeit solche disparaten Ereignisse zu synthetisieren, wurde mir schlagartig klar, als ich zufällig im Radio in eine Liveübertragung hineingeriet, die ich zunächst nicht so recht einordnen konnte. Es erklang eine eigenartig instrumentierte, leicht schleppende Interpretation eines Ländlers, die ein wenig lang vor sich hin polterte. Dann völlig abrupter Wechsel in ein ultrahartes musikalisches Kettensägenmassaker, eine pure Lärmorgie. Dann Stille – und: tosender Beifall. Es war der oben erwähnte John Zorn auf dem Jazz Open in Berlin 2016.


Ich stelle mir also vor, wie der Schleifteller des linkischen Zeichners Heinz Pelz unkontrolliert über das Büttenpapier rotiert und eiert und immer wieder ausbricht, über die Fläche driftet und ihn einem unschuldigen Zustand annähert, der den eingeschlagenen Weg nicht kennt. Da ist sie wieder, die Drift. Als Unterströmung, die mich unmerklich, aber beharrlich aus einer Bahn trägt die ich eigentlich verfolge, als ein bewusstes Sich-treiben-Lassen, im Falle von Heinz Pelz auch als permanente Suchbewegung an den Rändern.


Interessanterweise gibt es den Begriff der Drift auch in der Augenmedizin. Dort beschreibt er die sogenannten Mikrosakkaden, unwillkürliche, winzig kleine Bewegungen, die das Auge ausführt, um auf der Netzhaut nahe beieinander-liegende Rezeptoren im schnellen Wechsel einzusetzen. Nur durch diese Signalwechsel wird zum Beispiel eine Kontur überhaupt sichtbar. Gleicht man diese Bewegungen durch eine spezielle Versuchsapparatur künstlich aus, verschwindet das stabilisierte Bild, es wird tatsächlich unsichtbar! Nehmen wir diese “Drift” wieder hinüber ins zeichnerische Tun, dann ermöglichen dessen laterale Suchbewegungen gewissermaßen erst, das Eigentliche in den Blick zu bekommen. Und Drift wohnt nahe am Flanieren: es gibt vielleicht eine grobe Richtung, aber die Bewegung kann jederzeit nach allen Seiten abweichen. Sie bleibt ungerichtet und ist trotzdem fokussiert. Was mitnichten bedeutet, dass man kopflos ist, sondern im Gegenteil hellwach. Mit einer Wachheit, die völlig auf den Augenblick und jedes kleinste Detail bezogen ist, und die sich von Sekunde zu Sekunde in einem Möglichkeitsraum orientiert und ihn ausschöpft. Außerdem ist der Flaneur ein detailversessener Sammler. Gero von Randow beschreibt ihn in einem Zeit-Artikel so: „Der Flaneur gilt als Schmetterlingswesen, ohne Gewicht oder Tiefsinn. Er betrachtet alles mit gleichem Interesse, also muss ihm alles gleichgültig sein – oder? Was für ein Quatsch! Will man ihm vorhalten, dass er die Details ernst nimmt? Dass er aufmerksam ist, wo andere achtlos bleiben? Außerdem: Was tun denn all die zweckdienlichen Leute, wenn sie gerade mal nichts Dringliches auf dem Zettel haben? Sie suchen Zerstreuung. Der Flaneur indes sucht keineswegs die Zerstreuung, im Gegenteil, er ist ein Sammler. Er liest in den Gesichtern. Er entziffert Namen an den Türschildern, und sofort fallen ihm passende Berufe und Begebenheiten ein.“(3)


Und was finden wir wunderbarerweise beim großen Flaneur Walter Benjamin in seiner „Einbahnstraße“ aus dem Jahr 1928, die in den Komplex der Passagenwerke gehört? „In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er kann. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden.“(4)


Was also sehen wir, da wir dank der kleinen Augendrift nicht erblindet sind? Wir sind im Ungegenständlichen. In einer Erzählung, die eine Art Polyphonie entwickelt, mit entschiedenermaßen unterschiedlichen Sprechweisen, die in den verschiedenen Strata dieser Arbeiten abgelegt sind, die dadurch mitunter recht komplex werden. „Storytelling ist das bewährte Mittel, um Fakten im Hirn des Publikums zu verankern und Vertrauen aufzubauen“, las ich kürzlich in einem Artikel über Wissenschaftskommunikation, der beschrieb, wie komplizierte Zusammenhänge populärwissenschaftlich heruntergebrochen werden müssen, um wirklich erfolgreich zu sein. An der Stelle macht Heinz Pelz leider alles falsch. Das komplexe Narrativ unterläuft diese Idealvorstellung einer monolinearen Erzählung.


Ich muss, wie beim Hören von Bach, die einzelnen Melodielinien zunächst einmal als solche identifizieren und dann sehen, wie sie im gleichzeitigen Verfolg dieser Linien zusammenklingen. Diesen Klang erzeuge ich im Prinzip in mir. Und wenn wir in diesem Bild bleiben, mit Tonspuren, Schichten und Melodielinien, dann wäre das vielleicht sogar bei jeder Betrachtung ein Lesevorgang, bei dem ich das visuelle Programm – abhängig von meiner Tagesform – erneut aufrufe, bevor ich los spaziere, vergegenwärtige und zusammensetze, um in diesem Setting eine neue persönliche Balance zu finden.


In einigen Arbeiten gibt es dann noch diese eigenartigen Farbstapel aus vier oder fünf Farben, die manchmal aussehen wie kleine Nester, in denen Heinz Pelz Farbe eher herbeizitiert, herzeigt. Da, schau: Farbe! Nicht betörende Koloristik, eher ein Beimischen, ein lakonisches Ablegen dessen, was das Farbbündel in der Faust in seiner Drehbewegung hinterlässt. In ihrer verhaltenen Farbigkeit und den offenen Bildräumen „sehen“ die großen Arbeiten ein wenig „aus wie“ chinesische Tuschemalerei. Sie nähern sich – sicherlich in Kenntnis des Vorhandenen: er ist hoch reflektiert! – dem Phänotyp dieser Malerei, aber letztlich so unabsichtlich wie absichtslos, „egal“. An einer Übersetzung von irgend Etwas in irgendetwas Anderes, einer Interpretation, ist Heinz Pelz gar nicht interessiert, eher setzt er über zu seinem (funktionierenden) Bild. Das ist schon alles.


Und weil wir anfangs über zeichnerische Elemente und Ideen als „Vokabeln“ sprachen – um es im Duktus von Inger Christensens Langgedicht „alphabet“(5) zu sagen:


das Blatt gibt es.

die Linien und Flächen, sie gibt es.

die Farben – gibt es.


(1) Henri Matisse, Notes d‘un peintre – Entretiens,

 La Grande revue, Paris, 1908.

(2) William Goldman, Die Brautprinzessin,

 Hobbit-Presse bei Klett-Cotta, Stuttgart, 1977/2002.

(3) Gero von Randow, Flanieren - Folgen sie mir unauffällig

 in: DIE ZEIT Nr. 24/2016.

(4) Walter Benjamin, Einbahnstraße

 in: Gesammelte Schriften Band IV/1, S. 89.

(5) Inger Christensen,

 alphabet, Kleinheinrich, Münster 1988, 1990, 2001.


© 2018 Harald Kröner

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